Inn Logbuch
von Liliane Waldner
Einführung in den Inn
Der Inn entspringt auf 2484 m.ü.M. den Quellbächen in den Lunghinsees. Seine Fliessstrecke auf Schweizer Gebiet bis Martina beträgt 104 Kilometer, seine Gesamtlänge bis zu seiner Mündung auf 219 m.ü. NN in die Donau bei Passau beträgt 517 Kilometer. Bei der Mündung bei Passau beträgt die mittlere Abflussmenge des Inns 738 m3/s und der Donau 690 m3/s. Der namensgebende Fluss für den weiteren Verlauf ist die bis zur Mündung mit 547 Kilometern Fliesslänge längere Donau. Ferner behält sie in Passau ihre Fliessrichtung bei.
3. Januar 2015: Sent - Ftan
Das Flussprojekt startet mit Pleiten, Pech und Pannen. Am 31. Dezember 2014 will ich von Sent aufgrund einer Beschreibung des Verkehrsvereins Scuol auf der dort vorgestellten Via Engiadina als Winterwanderroute via Vastur, Jonvrai nach Motta Naluns steigen. Ich finde im Dorfkern von Sent aber keinen Hinweis auf den Winterwanderweg. Die Einheimischen schicken mich zuerst Richtung Val Sinestra hinauf. Nach einigem Zweifel kehre ich wieder zurück und werde die Sommerroute hinaufgeschickt. Der Weg wird dort jedoch nur durch Pistenfahrzeuge benutzt und von künstlichen Schneeanlagen gesäumt. Weit oben beim Waldrand geht der steile Weg in die Skipiste über. Es wird mir zu gefährlich und ich kehre um. Beim Abstieg treffe ich auf ein Paar, das mir sagt, es wage einen neuen Anlauf nach Motta Naluns. Es sei bereits seit zwei Tagen da. Es sei gestern etwas weiter oben umgekehrt, weil es nicht mehr weiter gehe. Es wundere sich auch, ob und wo es einen Winterwanderweg gebe. Es sei alles schlecht beschildert.
Ich steige weiter unten in einer anderen Variante ins Dorf ab und frage eine ältere Frau. Sie erklärt mir, wo der Weg startet, bezeichnet die Route ab Jonvrai am Rand der steilen Piste nach Motta Naluns hinab als schwierig und für mich allein nicht ratsam. Ferner ist ungünstig, dass der Weg bei Vastur, Jonvrai und Motta Naluns mehrmals die Skipiste quert oder der Piste entlang verläuft. Es gibt einen leichteren Weg unten nach Scuol und von dort käme ich gut nach Ftan weiter. Weil ich zu viel Zeit verloren habe, nehme ich das Postauto und die Bahn zurück. Etwas unterhalb der Haltestelle Sala sehe ich aus der Fahrtrichtung nach unten rechts ein pinkfarbenes Winterwanderschild. Auf Wiedersehen!
Zum Dörfchen Sent: Es ist mit seinen alten, gut gepflegten, typischen Engadiner Bauten sehenswert. Kulturelles Glanzlicht ist die Pensiun Alder, in der ein Alberto-Giacometti-Museum eingerichtet worden ist. Warum die Routenwahl durch die Dörfer hoch über dem Inn: Der Inn schneidet sich im Unterengadin so tief in das Tal ein, so dass entlang des Flusses kein begehbarer Weg möglich ist.
Ich kehre am 3. Januar 2015 zurück und steige bei der Haltestelle Sala aus. Die Rückkehr ist von Pannen gesäumt. Zuerst befürchte ich, den Zug nicht zeitig zu erreichen, weil die Tramtüre nicht schliessen kann und die rasch eingetroffenen VBZ-Serviceleute sie erst flott machen müssen. Danach fährt der Zug mit 20 Minuten Verspätung ab, weil die Lok gestört ist. Der Anschluss in Landquart ist futsch. Ich hätte eine Stunde länger im Bett bleiben können. Beim Beginn des Winterwanderweges ist eine besonnte Sitzbank, wo ich meine Spikes anziehe und auf dem anfänglich eisigen und steilen Weg aufsteige. Danach folgt ein breiter, harter Winterwanderweg am Sonnenhang über dem Tal. Leider bricht nach wenigen hundert Metern eines meiner Schuheisen. Ich frage mich: „Hat mich der Inn nicht gern? Warum läuft das hier so verkorkst ab?“ Langsam steige ich mit nur einem funktionierenden Eisen nach Scuol ab und entsorge die Eisen in einem WC-Häuschen beim Parkplatz oberhalb des Zentrums. Die Strassen sind dort aper. Ich entdecke ein Schuhgeschäft auf der Seite neben der Graubündner Kantonalbank. Die Chefin versteht mein Bedürfnis nach einer einfach zu montierenden, sicheren und stabilen Gleitsicherung. Sie bietet mir eine Art Körbchen mit einem starken, mit Spikes versehenen Netz an, in das ich meine Schuhe stecken und mit Klettverschluss befestigen kann. Es ist nicht billig, aber das Beste, das ich je gesehen habe. Gekauft. Sie zieht es mir gleich an.
Hui, wie es mit der neuen Gleitsicherung läuft! Unweit des Schuhgeschäftes steigt ein Winterwanderweg steil über das Dorf hinaus auf. In sicheren und flüssigen Schritten absolviere ich den sulzig-glatten, steilen Weg. Etwas höher habe ich bei einer aussichtsreichen Sitzbank eine Teerast nötig. Danach geniesse ich den gut vierhundert Höhenmeter langen Aufstieg nach Ftan. Ich denke: „Der Inn hat mich lieb, ja er hat mich sehr lieb. Dank ihm habe ich endlich eine Gleitsicherung gefunden, mit der ich mich auf eisigen, glatten Wegen sicher und wohl fühlen kann!“
Ich sehe von der Höhe das bekannte Schloss Tarasp, das im Besitz einer hessischen Adelsfamilie ist. Erwähnenswert ist das Museum Engiadina Bassa in Scuol. Ftan ist bekannt für sein Hochalpines Institut, wo die Kinder sehr wohlhabender Eltern aus aller Welt das Gymnasium absolvieren.
Der Inn hat mich nicht nur sehr lieb, er will mich auch gleich behalten. Bei der Rückfahrt hat die Lok eine Betriebsstörung und der Zug fährt mit grosser Verspätung ab. Der Anschluss auf den Intercity nach Zürich ist futsch. Da hätte ich noch gut in Scuol Kaffee trinken und eine Stunde später fahren können.
Es muss im Normalfall mit etwa drei bis dreieinhalb Stunden gerechnet werden, um auf dem einfachen Winterwanderweg von Sent nach Ftan zu gelangen.
Nachtrag: Tourismus Engadin antwortet auf meine Kritik der mangelhaften Winterweg-Signalisation in Sent. Siehe deren Mail-Antwort:
„Stimada duonna Waldner
Sie haben zu Beginn dieser Woche eine Beanstandung bezüglich der Winterwanderweg Signalisation in Sent, an der Gäste-Information Scuol gemeldet.
Wir haben die Signalisation der Winterwanderwege aus dem Dorfzentrum Sent überprüft. Es stimmt, dass die Winterwanderwege aus dem Dorfzentrum schlecht oder ungenügend signalisiert sind. Wir werden dieses Problem zusammen mit der Gemeinde angehen und die Wegweiser nachrüsten. Aufgrund der langen Bestellzeiten kann ich Ihnen jedoch nicht versprechen, dass das noch in diesem Winter verbessert werden kann.
Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen, für Ihre wertvolle Rückmeldungen. Durch Rückmeldungen wie der von Ihnen können wir die Qualität des Wegenetzes und der Signalisation in unserer Ferienregion stetig verbessern.
Amiaivels salüds
Michael Leibacher
Leiter Angebotsentwicklung
Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair AG“
Links:
http://www.alberto-giacometti-museum.ch/de/
http://www.aldier.ch/de/
https://www.bing.com/videos/riverview/relatedvideo?q=schloss+tarasp&mid=81C4BE190442663354E081C4BE190442663354E0&FORM=VIRE
http://www.hif.ch
5. Januar 2015: Ftan - Guarda
Es hat kaum geschneit, stelle ich fest, als der Zug den Vereina-Tunnel Richtung Unterengadin verlässt. Es hat im Gegenteil weit hinab geregnet. Ich ziehe im Wartehäuschen von Scuol meinen Gleitschutz vorsorglich über die Wanderschuhe. Beim Verlassen des Postautos in Ftan ist der Platz glatt und rutschig. Auf den Regen ist die Kälte gekommen. Ich laufe vorsichtig durch das Dorf und will auf den Winterwanderweg Richtung Ardez. Dieser ist so vereist, dass ich wieder auf die Strasse zurückkehre. Ich folge der verkehrsarmen Nebenstrasse Richtung Ardez vorsichtig. Ich kann an den etwas gröberen Rändern oder den aperen Stellen auf der Fahrbahn gehen. Dank des Sonnenhanges kommen längere, eisfreie Abschnitte. Vor der Brücke über die Tasna kommt mir ein Mann entgegen, der mir erklärt, es sei nicht möglich, die Winterwanderwege zu begehen. Sie seien viel zu vereist. Er läuft nur auf den Strässchen.
Ich muss deshalb die Ruine Chanoua auslassen und gelange direkt nach Ardez mit seinem markanten Schloss Steinsberg, das auf einem Hügel das Tal dominiert. Im Ort sind die Strassen wiederum vereist, praktisch nur die Fahrrillen begehbar. Ich gehe wegen eines Autos auf den Wegrand und stürze trotz Gleitschutz mit dem Hinterteil auf den polierten Untergrund. Die Automobilistin kommt mir zu Hilfe. Ich suche eine apere Stelle, um auf die Füsse zu kommen, ohne wieder auszurutschen. Danach gehe ich noch vorsichtiger weiter durch das vereiste Dorf mit seinen pittoresken Bauten.
Ich entdecke das Adam und Eva-Sujet samt Apfel als Wandgemälde an einem Gebäude und fotografiere es. Das Strässchen bis Bos-cha ist eis- und schneefrei. Ich komme flott voran. Aber im Weiler ist wieder alles vereist. Ich komme mit einem pensionierten Lehrerpaar aus dem Aargau, das in Ardez ein Haus besitzt, ins Gespräch. Wir suchen uns eine begehbare Route durch die vereisten Strässchen. Nach dem Dorf ist es wieder bis fast nach Guarda trocken. Wir rasten gemeinsam auf einer sonnigen Bank mit Aussicht auf die „Unterengadiner Dolomiten“. Sie empfehlen mir, in Guarda das Postauto zu nehmen. Von Guarda nach Lavin müsste dem vereisten, nicht begehbaren Winterwanderweg gefolgt werden. Sie zeigen mir das Schellenursli-Haus in Guarda und erklären, die Kindergeschichte würde bald in Guarda neu verfilmt. Die Schellenursli-Geschichte ist von Selina Chönz geschrieben und von Alois Carigiet illustriert worden. Wir trinken gemeinsam einen Kaffee, bevor wir mit dem Postauto zum Bahnhof fahren und uns verabschieden. Sie meinen, die Bedingungen seien für einen Januar ungewöhnlich. Es hat viel zu wenig Schnee. Normalerweise hätten sie um diese Zeit genügend Schnee, so dass die Winterwanderwege schön gewalzt und gut begehbar seien. Sie raten mir, wieder zu kommen, nachdem reichlich Schnee gefallen sei.
Übrigens fällt mir auf, wie oft die Menschen mein Grüezi mit Allegra beantworten. Mit der Zeit fange ich an, ebenfalls mit Allegra zu grüssen. Die Einheimischen sind stolz auf ihr Romanisch und pflegen es.
Bei normalen Bedingungen beträgt die Winterwanderzeit von Ftan nach Guarda etwa drei und ein viertel Stunden. Trotz Gleitschutz bin ich gestürzt, ohne hätte ich in Ftan im Postauto sitzen bleiben und umkehren müssen. Auch die Stöcke finden bei Eis keinen Halt. Immerhin sind die Thermosflaschen mit warmem Tee intakt geblieben.
Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ardez
http://www.myswitzerland.com/de-ch/schlossruine-steinsberg.html
http://www.myswitzerland.com/de-ch/guarda-das-schellenursli-dorf.html
7. Februar 2015: Guarda - Susch
Ich kehre erst wieder an den Inn zurück, nachdem genügend Schnee gefallen ist und ich sicher bin, dass die Wege besser begehbar sind. Ich habe mir einen neuen Gleitschutz gekauft und diesen auf Winterwanderwegen im Gebiet Einsiedeln und Rothenthurm sowie auf dem Suworow-Winterwanderweg im Sernftal getestet. Ich habe das leise Gefühl erhalten, mit diesem Gleitschutz in Ardez nicht gestürzt zu sein, obwohl er günstiger ist als der vorherige. Es kommt hinzu, dass ich zu Hause angefangen habe, täglich 1‘000 Treppenstufen zu steigen. Die Geduld und gründliche Vorbereitung zahlt sich aus.
Zurück in Guarda stelle ich fest, dass auch die Strassen innerorts mit einer Schneeschicht bedeckt und besser begehbar sind. Beim Parkplatz unterhalb von Guarda steigt der einwandfreie wie aussichtsreiche Weg leicht nach Lavin ab. Die letzten Nebelfelder lösen sich auf und ich geniesse den sonnigen Tag. Nomen ist Omen: Der Weg quert eine Lawinenzone und darf nicht verlassen werden, warnt ein Schild. Es ist erforderlich, sich vorgängig bei Engadin Tourismus in Scuol über die Sicherheitslage zu informieren.
Ich komme bei der Ruine Gonda vorbei. Dort hat sich bis im 17. Jahrhundert eine Siedlung samt Kirche befunden. Es ist nicht bekannt, warum sie verlassen worden ist. Dies ist Gegenstand der geschichtlichen Forschung. Die Lawinengefahr wäre ein plausibler Grund. Etwas weiter darunter befindet sich sogar eine felsige Lawinenschutzhütte, die in alter Zeit erstellt werden sein musste.
Lavin ist wieder ein schmuckes Dorf. Am Haus eines Flurina-Zentrums ist eine Fahrverbotstafel für Fahrräder angebracht. Sie stammt aus historischer Zeit, denn eine Busse von zwei Franken beeindruckt heutzutage niemand.
In Lavin gelange ich bei der gedeckten Holzbrücke erstmals an den Inn. Der tadellose Winterwanderweg führt durch ein Waldgebiet und Wildschonrevier nach Susch, wo die Winterroute der Via Engadina im Unterengadin endet. Es ist im Winter nicht möglich, nach Zernez zu wandern. Ich raste bei einer Sitzbank etwa eine halbe Wegstunde vor Susch. Die heutige Wegzeit kann je nach Verhältnissen mit etwa 3 Stunden veranschlagt werden. Als Sehenswürdigkeiten erwähnenswert sind der Plantaturm sowie die Fortezza Rohan, die hoch über Susch thront. Sie wurde im dreissigjährigen Krieg erstellt.
Nachdem ich wegen meiner Prellung auf der Etappe Ftan - Guarda gezweifelt habe, ob der Inn mich lieb hat, komme ich nach dem prächtigen Tag und den tadellosen Winterwanderwegen heute zum Schluss: Der Inn liebt mich doch und ich freue mich auf die weiteren Etappen und Tage mit ihm.
Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Gonda_%28Lavin%29
https://www.burgenwelt.org/schweiz/tuorplanta/object.php
12. Februar 2015: Brail - Bever
Zwischen Susch und Brail besteht im Winter kein durchgängiger Wanderweg. Der Inn fliesst oberhalb und unterhalb von Zernez durch enge Schluchten. Ich setze deshalb meinen Weg ab Brail fort.
Es ist sonnig und klirrend kalt, als mich der Bus von Zernez nach Brail bringt. Ich bin die einzige Passagierin, die in Zernez den Bus besteigt. Die meisten Menschen nehmen in Zernez die Busse ins Münstertal und nach Livigno. Der Buschauffeur würde bei diesem Wetter auch gern Wintersport betreiben. Ich bin froh, dass ich den Gleitschutz bereits in der Bahn nach Zernez montiert habe. Es ist eisig glatt, als ich aussteige. Das Trottoir durch das noch schattige Brail ist eisig. Der steile Aufstieg zur Kirche ist von einer dünnen, harten Schneeschicht bedeckt. Erst der Winterwanderweg beim Dorfausgang ist hart und griffig.
Von Brail steige ich durch einen Wald nach Cinuos-chel. Der Weg verläuft teils parallel zur Loipe. Die Sonne kommt und es ist angenehm warm. Ich kann mich des Tages freuen. Auf meiner Route reihen sich die schmucken Engadiner Dörfer wie Girlanden auf. Bei Chapella mit dem weit sichtbaren Kirchturm und Hospiz gelange ich auf die Strasse und folge ihr etwa 100 Meter lang. Erst von dort steigt der breite Winterwanderweg wieder in den Wald hinauf, um danach nach S-chanf abzusteigen. In Chapella findet jedes Jahr im Sommer ein bedeutendes Bündner Open-Air mit einheimischen Künstlern statt.
Ich raste auf der Sitzbank vor dem Verkehrsverein in S-chanf. Die Sitzbank ist der Biathlon-Weltmeisterin Selina Gasparin gewidmet worden. Ab S-chanf führt der Winterwanderweg bis nach Bever entlang des Inn. Ich komme auf ihm zügig voran, entledige mich aber nach meinem Abstecher nach Madulain des bremsenden Gleitschutzes. Ich finde das Gebäude, wo ich im Januar 1969 die damals obligatorische Haushaltungsschule besuchte. Das Gebäude ist heute in Privatbesitz. Ich raste nach meinem Abstecher ins Dorf auf einer sonnigen Sitzbank ausgangs des Dorfes.
Die Sonne ist bereits untergegangen, als ich im pastellfarbenen, milden Abendlicht in Bever ankomme. Ein landender Jet fliegt mit ausgefahrenem Fahrwerk direkt über mich und verschwindet beim nahen Flugplatz Samedan, als ich über das offene Feld dem Bahnhof und Dorf zustrebe.
Für die Tagestour müssen fünf bis sechs Stunden veranschlagt werden. Solche langen Märsche auf Schnee erfordern mehr Energie und Zeit.
Links:
https://chapella.ch/
16. Februar 2015: Bever - Champfèr
Heute geniesse ich den Sonnenschein von Anfang an. Flott geht es vom Bahnhof Bever entlang der Bahnlinie nach Samedan, durch den lang gezogenen Ort und nach dem Bahnhof via der Innbrücke auf den Winterweg zuerst den Fluss entlang und dann über das offene Feld, wo ich auch Loipen quere. Nahe des Hügels mit der historischen Kirche San Gian nimmt ein Ehepaar seinen Kiosk an der Loipe in Betrieb. Ich ziehe wegen der Wärme meinen Pullover aus und laufe nur mit dem langärmligen Unterhemd unter der wattierten Sportjacke weiter.
Die meisten Menschen laufen auf dem sonnigen Hochplateau Richtung Pontresina. Ich nehme den Weg nach St. Moritz, komme am Bahnhof Celerina Staz vorbei und steige durch eine waldige, schattige Schlucht zum St. Moritzersee hinauf. Der Inn wird durch die Hauptstrasse in einen schmalen Kanal entlang der westlichen Seite gezwängt. Er fliesst bei einem Wehr aus dem St. Moritzersee und auf der Höhe von Celerina wird mit seinem Gefälle Strom produziert.
Der See ist gefroren. Ich sehe die Zeltstadt des White Turf auf dem See. Die Pferderennen finden am Wochenende statt. Ich gehe auf der Seite von St. Moritz den See entlang und raste in St. Moritz Bad auf einer Bank am See. Danach quere ich den Ort und hoffe, eine Bäckerei zu finden, um endlich ein Stück Engadiner Nusstorte zu kaufen. Die Konditorei ist aber während der Mittagszeit geschlossen.
Ich folge zuerst der Strasse Richtung Silvaplana. Der Fluss fliesst links von mir vom Champfèr-See Richtung St. Moritzersee. Beim Ende des Trottoirs zweigt der Winterwanderweg via einen waldigen Hügel mit dem Flurnamen God Spuondas nach Champfèr ab. Auf dem Weg zum Ortskern entdecke ich Fadrinas Hoflädeli des Bio-Bauernhofs. Dort kann ich ein kleines, hausgemachtes Engadiner Nusstörtli kaufen, das ich auf der Heimfahrt geniesse. Ich kann mich nicht erinnern, ein solch gutes Stück Engadiner Nusstorte gegessen zu haben. Der Hofladen zeichnet sich durch eine reichhaltige Auswahl lokaler Spezialitäten aus.
Ich bin um etwa 9.45 Uhr in Bever abmarschiert und um 13.45 Uhr in Champfèr angekommen. Schnee und Gleitschutz verlangsamen meine Schritte. Es ist Montag und ich will nicht zu spät in Zürich sein.
Links:
https://www.refurmo.ch/ueber-uns/liegenschaften/celerina/kirche-celerina/schlarigna-san-gian
http://www.whiteturf.ch
https://www.facebook.com/fadrinashofladen/info?tab=overview
28. Februar 2015: Champfèr - Maloja
Ich steige beim Schulhaus Champfèr aus, um mich in Fadrinas Hofladen für die lange Heimfahrt mit Proviant einzudecken. Dazu zählt ein Salsiz aus Angus-Beef. Vom Dorf marschiere ich quer über den Champfèr-See Richtung Surlej und entdecke auf der Seite des Silvaplanersees das Schloss Crap da Sass. Es wurde von einem deutschen Adeligen und General gebaut und später vom Mövenpick-Gründer Ueli Prager erworben. Es ist immer noch in Familienbesitz.
Weil der Weg über den Silvaplanersee für Wanderer gesperrt ist, marschiere ich auf dem Uferweg nach Sils. Unterwegs halte ich einen Biker an, um dessen Bike mit extra-breiten Schneereifen zu fotografieren. Der freundliche Mann erklärt mir, dass das Bike eine Innovation aus Alaska sei und erst jetzt aktuell hier aufkomme.
In Sils raste ich auf der Sitzbank direkt gegenüber dem Nietzsche-Haus. Der deutsche Denker und Schriftsteller hat dort von 1881 - 1888 während der Sommermonate gelebt und gewirkt. Erwähnenswert in Sils ist das historische Hotel Waldhaus Sils. Es sitzt oben auf einem Felssporn am Eingang zum Fextal. Es befindet sich seit 1908 im Besitz der selben Familie und wird heutzutage durch die Cousins der ZKB-Direktorin Annamaria Riederer geführt. Die Liste der bedeutenden Persönlichkeiten ist lange, die im Waldhaus abgestiegen sind: Theodor Adorno, Joseph Beuys, Marc Chagall, Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein, Hermann Hesse, Theodor Heuss, Maximilian Schell, Richard Strauss. Dies sind nur einige Beispiele.
Ich kaufe bei der Bäckerei Grond noch ein Bauern-Birnbrot und nehme danach den weiten Weg auf dem gefrorenen Silsersee nach Maloja unter die Füsse. Von Maloja her weht ein steifer Wind, gegen den ich anzulaufen habe. Der Himmel wird grauer und hinter dem Pass sogar schwarz. Ich komme an der Inselgruppe Chaviolas vorbei, danach an der Halbinsel Isola. Mitten auf dem See bricht die Sonne wieder durch die Wolken. Die Gebirgszüge nördlich des Sees tauchen in ein helles, pastellfarbenes Licht. Es ist ein Licht wie, es die Gemälde Segantinis prägt. Die Sonne wärmt mein Gesicht. „Herrgott, wie ist das schön“, fährt es durch mich. Ich bin allein auf dem Wanderweg, nur auf den weiter entfernten Loipen ist noch Betrieb. Jetzt ist endgültig klar: Der Inn mag mich. Er erweist mir mit diesem Zeichen seine Freundschaft und ich habe ihn auch gern. Mit seinem Wasser ist das Eis des Silsersees gefroren worden, das mich auf dem Weg über den See trägt. Nach einiger Zeit wird der Himmel wieder grau, bläst der Wind wieder stärker. Bald kommt Maloja mit dem das Dorf überragenden Turm Belvedere näher. Die Vorbereitungen für den Engadiner Skimarathon mit Start in Maloja sind bereits im Gange. Ich steige in das Dorf auf und fotografiere das bereits geschlossene Atelier Segantini, bevor das Postauto mich hinunterführt. Auf der Heimfahrt feiere ich mit den eingekauften Engadiner Spezialitäten die Freundschaft mit dem Inn. Die Oberengadiner Seestrecke hat viel Zeit und Kraft benötigt. Sie ist eine Tagestour.
Wenn Gott und die Gesundheit es wollen, setzte ich den Weg zur Innquelle beim Lunghinpass im Hochsommer fort. Bis dann: A revair.
Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Crap_da_Sass
http://www.nietzschehaus.ch
http://www.waldhaus-sils.ch/de
https://segantini-museum.ch/
7. September 2016: Martina - Scuol
Weil sich die neurologische Situation des rechten Fusses innert Kürze stark verschlechtert hat, habe ich faktisch notfallmässig einen Fussheber beim Ortho-Team gekauft. Dieses Band soll die Hebefunktion verbessern und das Stolperrisiko senken. Ich teste es auf den einfacheren Flachstücken entlang des Inns und nutze die Gelegenheit, auf jenen Strecken die Lücken entlang des Inns zu schliessen, auf denen Winterwanderwege fehlen und die ich im Winter 2015 folglich nicht begehen konnte.
Ich benutze den Radweg, der teils asphaltiert, teils gekiest ist. Die Distanz von Martina nach Scuol wird mit 19 Kilometern angegeben. Ich muss mich erst an die neue Vorrichtung gewöhnen. Sie hebt den Fuss zuverlässig. Ich stosse weit weniger oft an als vorher. Mit der Zeit verspüre ich mehr Druck und am Schluss habe ich eine veritable Blase auf dem Rist.
Ich raste ausgangs von Strada ein erstes Mal. Danach quert der Weg den Inn. Vom Weiler San Niclà bis zum Kraftwerk Pradella ist der kombinierte Rad- und Wanderweg meistens ein Naturweg. Schattige Wälder und die sanften Engadiner Hänge machen die Route zu einer lieblichen Strecke zum Träumen. Wäre da nicht das immer stärkere Drücken, Ziehen und Stechen an meinem neuen „Fussgeschirr“!
Gegenüber Ramosch mäandriert der Inn durch ein verengtes Tal mit felsigen Hängen. Hoch oben bei Ramosch ragt eine Burgruine empor. Vor Sur En ist der Wanderweg auch ein Skulpturen-Weg. Beim Campingplatz raste ich und erleichtere mich während der Rast vom „Geschirr“. Danach geht es flott weiter bis zum Kraftwerk Pradella mit der riesigen Schaltzentrale. Von dort führt der asphaltierte Weg über eine Brücke und ein Strässchen entlang leicht steigend nach Scuol. Dort im Zentrum verknüpft sich mein Fussweg mit jenem, den ich im Winter 2015 in Sent begonnen und via Ftan in der Höhe fortgeführt habe.
Links:
http://www.swisscastles.ch/Graubuenden/tschanuff_d.html
http://www.sur-en.ch/index.php?id=53
9. September 2016: Susch - Zernez
Beim Aussteigen in Susch spüre ich noch die winterliche Kälte, als ich in meiner Winterwanderetappe Guarda - Susch angekommen bin und dort aufhören musste. Nach Zernez führt im Winter nur eine Langlauf-Loipe, die für Wandersleute gesperrt ist. Das Gefühl der Kälte mag trotz sommerlichem Wetter daran liegen, dass Susch in einem Schattenloch liegt.
Die Loipe nach Zernez ist im Sommer ein kombinierter Rad- und Wanderweg, dessen Distanz mit sieben Kilometern und Wegzeit mit zweieinhalb Stunden angegeben ist. Heute geniesse ich eine gemütliche Vormittagswanderung entlang des Inns. Der Weg ist mehrheitlich mit Naturbelag versehen. Etwa in der Hälfte liegt ein schattiger Rastplatz mit Feuerstelle, der an heissen Sommertagen attraktiv sein dürfte. Immer wieder denke ich an Lilian Uchtenhagen, die erste Bundesratskandidatin, deren Tod die Medien gemeldet haben. Ich habe Lilian gut gekannt und damals hin und wieder mit ihr zu tun gehabt, auch als Mitarbeiterin der Roten Revue, für die ich gelegentlich geschrieben habe. Bald erreiche ich Zernez und lasse mich bei Kaffee und Apfelstrudel im Hotel Filli nieder. In diesem Hotel bin ich beim ersten Nationalparkbesuch Ende der achtziger Jahre abgestiegen. Ein Jahr später habe ich mit den Eltern den Nationalpark besucht und unsere Familie hat im Hotel Fuorn auf dem Ofenpass logiert. Natürlich haben wir damals auch das Nationalparkzentrum - das dazugehörige Museum - besucht, um uns in diese Naturattraktion einführen zu lassen. Es werden durch die verschiedenen Teile des Nationalparks geführte Wanderungen angeboten, die meine Mutter und ich damals mitgemacht haben.
Links:
http://www.nationalpark.ch/de/besuchen/nationalparkzentrum/
12. September 2016: Zernez - Chinuos-chel
Ich ziehe den neuen Fussheber beim Bahnhof Zernez an. Ich wähle auch heute den kombinierten Rad- und Wanderweg auf der südlichen Seite des Inns. Ausgangs Zernez auf der Strasse Richtung Ofenpass zweigt der Weg nach rechts über eine Brücke ab. Es ist praktisch auf der ganzen Länge eine angenehme Naturstrasse. Die Wegdistanz wird ab dort mit drei und ein viertel Stunden angegeben, ab Bahnhof also muss mit dreieinhalb Stunden gerechnet werden oder mit etwa gut 12 Kilometern.
Der Weg zieht sich durch ein waldiges Gebiet mit stetem, leichtem Auf und Ab. Wer gerne einen kühlen, schattigen sowie einen Weg für Kontemplation liebt, ist damit bestens bedient. Am Anfang gibt es noch einige Sitzbänke, aber danach finde ich erst nach sieben Kilometern beim Geröll des Seitentals Val Verde einen guten Stein für eine Rast. Bald erblicke ich gegenüber Brail, wo ich den Winterweg bis nach Maloja fortgesetzt habe.
Brail hat mich im Winter 2015 frostig empfangen. Erst gegen Chinuos-chel habe ich Pulverschnee und wärmende Sonne genossen. Auch heute wird es wieder warm, als ich von der kühlen, schattigen Seite auf die sonnige von Chinuos-chel wechsle. Dort kann ich die Eisenbahn nehmen. Jetzt ist die Inn-Lücke grösstenteils geschlossen, bis auf einen Distanzmässig kleinen, aber anforderungsreichen Rest von Maloja zum Lunghinsee. Wichtig ist: Ich habe mehr als 95 % der Strecke zurückgelegt, praktisch den ganzen Inn im Inland.
Der Fussheber hat mich heute nicht geplagt. Die Zehen sind zwischendurch mal zusammengedrückt gewesen und ich habe es fertig gebracht, sie beim Gehen zu spreizen und zu entlasten. Erst beim steilen Abstieg zur Innbrücke habe ich den Zehendruck wieder gespürt, aber nachher ist bald alles wieder in Ordnung gewesen. Ich habe den Fussheber erst während der Heimfahrt abgezogen.